Technik, Wissenschaft und Kunst - eine Laudatio für Win Labuda - page 3

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3 -Win Labuda „Hirtenfrau in Palästina“,
Palästina, 1980
durch die Kreatur. Die einzelnen Stationen dieser Reise lassen den
Betrachter innehalten an ausgewählten, für die Entwicklung der
Menschheit markanten Positionen, denen Sie sechs Bildstationen
zuordnen. Die Zeit der fortschreitenden menschlichen Geschichte, der
Evolution, der Kosmologie ist unsere direkteWelterfahrung. Damit
versteht sich auch die Suche nach ihrem Anfang.
In der Station „Anfang der Zeit“ bestimmen drei Szenarien die Bildin-
halte: Erstens die Elemente Himmel, Land und Meer, weiter die
Horizontbilder, in denen sich Himmel und Meer berühren, und die
großen Steinformationen. Diese Fotografien suggerieren scheinbar eine
geringe Komplexität und gestatten dem Betrachter Assoziationen mit
den vier Elementen der Griechen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Sie
stellen den philosophischen Ursprung zum heutigen Verständnis des
Aufbaus der Materie dar. Die untergehende Sonne steht für das Feuer
und führt den Rezipienten in den Kosmos. Über diese Metapher wird
ihm bewusst, dass unsereWelt eineWelt hoher Komplexität ist. Stellver-
tretend dafür steht Ihr Bild „Abendklang 1“ aus dem Jahre 2006“.
ZumVerständnis der Station „Menschen heute“– oder besser gesagt,
meiner Interpretation derselben - möchte ich kurz auf den Begriff
„Mythos“ eingehen: „Mythos“ steht als Gegensatz dem gegenüber, was
man „Logos“ nennt [8]. „Mythos“ ist das Erzählen von erdachten
Geschichten, und „Logos“ ist die nachprüfbare Aussage. Mythen sind
allgegenwärtig: der biblische Schöpfungsmythos oder etwa der Urknall
alsWeltentstehungsmythos. Mythen spiegeln stets die seelische
Verfassung der Menschen und die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit
wider. Der Mythos zeigt den Zusammenhang der Dinge, indem er eine
Geschichte erzählt. Genau darum geht es Ihnen in jeder Ihrer
Fotografien: Der Mythos – so der Philosoph Georg Picht [9] (1913-1982) –
ist für uns versunken; er taucht nur wieder auf in der Gestalt von Kunst,
so zum Beispiel in Ihrem fotografischenWerk.
Die Station „Menschen heute“ porträtiert Personen innerhalb ihres
jeweiligen kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Sie zeigt die
Individualität, Aura undWürde des Einzelnen. Die beiden Fotografien
„Hirtenfrau in Palästina“ und „Gang zum Gebet“ sind beispielhaft für
dieses Anliegen.
Ich gehe nun auf die Fotografien der Station „Bilder und Zeichen“ ein:
Gegen Mitte des 10. Jahrhunderts schreibt Schabbtai Donnolo im Sefer
Chakmoni (einem der ältesten erhaltenen Kommentare zum Sefer Jezira,
dem Buch der Schöpfung und ältesten überlieferten eigenständigenWerk
der Kabbalah [10] ): „Während der 2.000 Jahre, welche der Schöpfung
vorausgingen, erfreute sich der Heilige, gepriesen sei Er, an derWissen-
schaft der Buchstaben. Er setzte sie zusammen, Er ließ sie kreisen, Er
kombinierte sie in einem einzigen Satz, Er drehte sie alle 22 vor und
zurück. Er stellte sie zusammen zu ganzen Sätzen, zu halben Sätzen, zu
Dritteln von Sätzen. Er kehrte die Sätze um, vereinigte sie, trennte sie,
formte sie um, ebenso in den Buchstaben wie in der Vokalpunktation. Er
zählte ihre Zahl, bis sie vollständig war. Dies waren die Handlungen des
Heiligen, gepriesen sei Er, als Er beschloss, dieWelt zu schaffen, mit dem
eigenenWort und mit dem Ausspruch des eigenen, großen und furcht-
baren Namens.“ In dieser Darstellung Gottes, der sich mit den
Buchstaben die Zeit vertreibt, um sie dann zur Schöpfung des
Universums zu benutzen, offenbart sich mit außergewöhnlicher Sugge-
stionskraft das innersteWesen der alttestamentarischen Vorstellung von
4 -Win Labuda „Gang zum Gebet“,
Jerusalem, 1980
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