Page 237 - Zur Reinheit funktionaler Oberflächen
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dann als Richtwerte für vergleichbare bzw. neu zu entwi-
ckelnde Produkte.
Dieses Verfahren ist jedoch nicht ganz unproblematisch.
Möchten wir beispielsweise feststellen wie viele Partikel sich
gebrauchsbedingt von der Oberfläche des Reinraum-Ver-
brauchsmaterials im Trockenzustand lösen, so scheint dies
zunächst einmal sehr einfach: Ein trockenes Reinraum-Tuch
wird mechanisch bewegt. Eine Teilmenge der an ihm haftenden
Partikel löst sich und die frei gesetzten Partikel werden mittels
Luft-Partikelzähler gezählt. Dabei gibt es jedoch ein Problem:
Die Partikelhaftung ist nicht nur abhängig von der mechani-
schen Verformung der Tuch-Oberfläche. Sie wird auch von
der jeweiligen Umgebungstemperatur, der relativen Feuchte,
den wirksamen van-der-Waals-Kräften, der elektrischen
Flächen-Ladung und den chemischen Inhaltsstoffen des Tuchs
bestimmt [13]. Die Anzahl der freigesetzten Partikel variiert
also in Abhängigkeit von den genannten Umgebungs-Parame-
tern. Dies gilt für alle in diesem Buch erwähnten Prüfmetho-
den, die auf der Bewegungs-induzierten Freisetzung luftgetra-
gener Partikel von Material-Oberflächen beruhen. Die Einflüsse
der Umgebungsparameter auf die Partikelhaftung sind lange
bekannt und beschrieben [14, 15].
Machen wir nun das vorstehend geschilderte Experiment
nicht mit einem trockenen sondern mit einem Lösungsmittel-
getränkten Reinigungstuch, so ändern sich die physikalischen
Voraussetzungen für die Durchführung der Simulation: Die
direkte Messung des Partikelstroms mittels Luftpartikelzäh-
ler ist nicht möglich, die elektrische Oberflächen-Ladung und
die van-der-Waals-Kräfte sind durch die Flüssigkeit im Tuch
nahezu aufgehoben. Zudem werden im feuchten Zustand des
Tuchs kaum Partikel in die Umgebung freigesetzt. Viele Partikel
haben sich von ihren Ruheorten auf der äußeren Garn-Oberflä-
che gelöst. Sie befinden sich vielmehr schwebend im flüssi-
gen Medium. Verringert sich die Flüssigkeitsmenge im Tuch
z. B. durch Verdampfen, so dass der Zustand von „flüssig“
in den Zustand „feucht“ übergegangen ist, ändert sich die
Partikelhaftung jedoch wiederum und folgt nun den Gesetzen
der Flüssigkeits-Brücken-Haftung [16]. Zwischen trockener,
feuchter und Lösungsmittel-getränkter Textil-Oberfläche gibt
es - die Partikel-Mobilität betreffend - unzählige Übergangs-
Zustände. Nicht ein einziger, sondern eine Vielzahl physikali-
scher Zustände ist dabei Haftung-bestimmend, jeder für sich
vielleicht berechenbar aber in ihrer Vielfalt praktisch nicht
überschaubar.
Aus diesem Beispiel folgt: Wir können unsere Prüfbedingun-
gen so gestalten, dass wir sie auf vorgegebene Umgebungs-
Zustände von Temperatur, Feuchte und elektrischer Ladung
beziehen, aber die mögliche Anzahl der Variablen reduziert in
erheblichem Maße die Wahrscheinlichkeit eines wahren Bezugs
zwischen Materialzustand und Prüfergebnis. Auch eine sorg-
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