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tanzende Venus,
F 129
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Titos Handabdruck,
F 016
währenden Zyklus von Verfall und Erneuerung.
In zweifacher Weise kommen wir in Berührung mit dem Phänomen der
Unendlichkeit und der Begrenztheit; die Mauer steht uns gegenüber als
ein alltägliches Monument der urbanen Begrenzung und wird so zur
stillen Aufforderung, die Grenzen zu überwinden und vor unserem
inneren Auge die Vorstellung einer unendlichen Welt hinter den Grenzen
zu erschaffen. Der Blick des Fotografen auf das alternde Gesicht der
Mauern ist aber auch der fragende Blick hinter die Grenzen unseres
eigenen Seins und der unausgesprochene Wunsch, dass sich hinter
diesen Grenzen eine neue, vielleicht eine unendliche Dimension auftun
mag.
Das Werk meines Vaters ist deshalb von höchster Aktualität, weil es zu
einem Zeitpunkt endgültiger Anerkennung der Fotografie als eigenstän-
dige Kunst wie vielleicht kein anderes eine Brücke schlägt zwischen der
Malerei des 20. Jahrhunderts und der Fotografie unserer Zeit.Er versetzt
uns mit seinem Werk in eine Welt der Mauern, deren Veränderungen er
zu Zeichen unserer eigenen Poesie werden lässt. Nachdem wir uns damit
auseinandergesetzt haben, wird der Gang durch die Gassen zu einem
Erkundungszug durch diese neuartige Welt der Zeichen, Bilder und
Symbole, und das Gesicht unserer Städte wird sich mit jedem Schritt, den
weniger an den fotografierenden Kollegen. So hatte er bis Ende der 80er
Jahre noch nicht einmal Bekanntschaft gemacht mit dem Band „ Graffiti“
von Brassai und war, wie er sagte, tief berührt und gleichzeitig freudig
überrascht, in Brassai einen ungekannten geistigen Vater gefunden zu
haben. Ausdruckstärkstes Element in seinem fotografischem Werk sind
die abstrakten Mauerstrukturen und Wandbemalungen. Hier tritt seine
zutiefst kontemporär geprägte Empfindung von Kunst und Ästhetik
zutage. Ein Bewunderer und Kenner der Kunst des 20. Jahrhunderts
findet hier ein Medium, um sich mit seinen eigenen Abstraktionen einzu-
reihen in die Reihe der Kunstschaffenden unserer Zeit. Buchstaben,
Wörter und Zahlen haben unterschiedliche Erscheinungsformen in
seinem Werk. Mal scheinen sie zusammenhanglos nebeneinander
gestellt, mal steht isoliert eine Zahl, geritzt oder gemalt auf einer Wand
oder auf Holz, dann ist es ein Schild mit einer Aufforderung oder schließ-
lich das geschriebene Geständnis. Durch diese Fotografien werden wir
mit einer wichtigen Komponente im gesamten künstlerischen Schaffen
des Künstlers konfrontiert - mit dem großen Kontinuum, dem Faktum
Zeit. Das Abblättern der Farbe, der Zerfall der Mauer, das Verblassen der
Buchstaben und Zahlen, aber auch die Instandsetzung von Verletzungen
der Maueroberfläche; all das wird uns hier vor Augen geführt und wir
sehen uns konfrontiert mit Gegenwart und Vergangenheit, mit dem ewig