Win Labudas Mauerbilder - page 10

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Schatten der Zeit,
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einen bestimmten Wahrnehmungsfokus hat. Sein Blick ist sensibilisiert
für die besondere Ästhetik der Maueroberfläche, welche Manchen ledig-
lich als sinnlosesWerk von Schmierfinken erscheint.
Eine andere Geisteshaltung, eine andere innere Bereitschaft führen zu
einer Veränderung unserer Realität und so kann dem einen ein bedeu-
tungsloser Farbklecks dem Anderen zum Kleinod seiner individuellen
Kunstgeschichte werden. Die Mauer wurde dem Fotografen im Laufe der
Jahrzehnte zum lebendigen Gegenpart. Wir dürfen durch seine Linse
hindurch Zeugen vieler sensibler Offenbarungen werden und somit
eintauchen in eine Realität, die danach auch zu unserer werden kann.
Mauerzeichnungen
Im Gegensatz zu den Farbaufträgen auf die Wand, die von meinem Vater
als abstrakte Mauerbilder gesehen wurden, von den Ausführenden
jedoch nicht in dieser Weise vorbestimmt waren, gibt es auch Wand-
bilder, die bereits in ihrem Ursprung eine künstlerische Dimension
zeigen.
F14 (14), F42 (8),
und
F120 (16)
stellen anschaulich dar, wie sich
ein Sprayer auf das künstlerische Wechselspiel mit dem Malgrund Mauer
einlässt.
F14 (14)
ist die Zeichnung eines „gehängten“ Strichmännchens
auf einer unregelmäßig bemalten Wandfläche. Links neben dem Männ-
chen stehen in gesprühten Buchstaben, neben einem runden Emblem
dieWorte
L'Invitation au suicide
(Einladung zum Selbstmord).
Betrachtet man daneben F42 (8)
, dann wird sofort deutlich, dass es sich
bei beiden Bildern um den gleichen Sprayer handeln muss. Der Kopf des
Strichmännchens ist abgetrennt vom Rumpf und schwebt umgekehrt auf
der Wand. Der Rumpf ist darunter als angeschnittene Wellenlinie zu
erkennen. Rechts neben dem Kopf sind, neben einem Sprühbild, welches
den Schauspieler Cary Grant zeigt, die Worte „Les Justes“ (die Gerechten)
zu lesen. Hier betrachten wir das Werk eines Graffitikünstlers, der eine
eigene Handschrift und somit einen eigenen Wiedererkennungswert
besitzt. Die Kombination von einer variierbaren Figur mit verschiedenen
Schriftzügen hat sich dieser anonyme Künstler zum Markenzeichen
gemacht, um damit eine eigene Botschaft nach außen hin zu präsen-
tieren.
Auf ganz andere Weise wirkt dagegen
F120 (16)
auf uns. Hier wurde mit
einigen wenigen Punkten und schwungvollen Strichen ein Gesicht in
Kinderart an die Wand gemalt. Ausgangspunkt der Zeichnung ist ein
kreisförmiges, schwarzes Element, welches ein ganz kleines Stück aus der
Wand herausragt. Vielleicht ist es eine Schraube oder ein alter Klingel-
knopf. Dieses Element, welches sich humorvoll in das Gesamtbild fügt,
bildet das rechte Auge des Porträts. Der Zeichner benutzte offensichtlich
ein vorhandenes Element der Mauer als Ausgangsbasis für sein Bild, inte-
grierte es und gab damit sowohl der Mauer als auch der Zeichnung einen
völlig eigenen Charakter.
Diese drei Beispiele, wie auch viele andere zeichnerische und bildneri-
sche Elemente, die fotografisch aufgezeichnet sind, offenbaren uns die
inspirierende Kraft, welche eine Mauer auf einen künstlerisch gestal-
tenden Menschen haben kann, das Wechselspiel, welches stattfinden
kann zwischen funktionaler Fläche und grafisch orientierter Kreativität.
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