Texten beschrieben und auf schwarz-weiß Film gebannt hat. Sein Focus
war im doppelten Sinne speziell, denn er hatte sich vor allem dem
Medium der Wandgravur (36, 37, s.a. Bildquellenangabe) zugewandt. Er
entdeckte auf den Mauen der zivilisiertenWelt Bilder der primitiven Bild-
nerei, die er gleich einer Erinnerung an ferne Urweltzeiten durch seine
Linse zu neuem Leben erweckt hat. Die Kerbungen der Kinder und der
Einsamen sprechen durch ihn ihre eigene archaische Sprache, die das
Unterbewusste, das Instinkthafte in uns unmittelbar berührt. So entdeckt
er auf seiner Reise durch das Graffiti seiner Zeit „Masken und Gesichter“,
„Tiere“ und „Zeichen von Tod“ aber auch „Liebe und Zauber“. In seiner
Kunst versucht er, durch den Fokus, den er wählt, seinen Ausschnitten
nahe zu sein. Zeigt er doch kaum etwas von der sie umgebenden freien
Mauerfläche, konzentriert er sich ganz allein auf die Lineaturen der
Gravur. Natürlich ist es ein nie enden wollendes Zusammenspiel von
Mauer und Gravur, welches er abbildet, dennoch ist man bei seinen
Bildern betroffen von der Intensität, die vor Allem aus der Nähe seines
Fokus entsteht. So entfalten seine Bilder ihre einzigartige Mythologie,
ihre ursprüngliche Sprache. Brassais Interesse an der archaisch anmu-
tenden Wandgravur gründet auf zwei bedeutende Einflüsse der dama-
ligen Zeit: dem Schaffen Pablo Picassos und der relativ neu entdeckten
Schönheit in der Kunst der Naturvölker. Beide Einflüsse sind eng mitein-
ander verquickt; war doch Picasso einer der großen Vertreter einer primi-
tivistischen Kunstrichtung geworden, deren Grundlagen auf der künstle-
rischen Aneignung archaischer Formen und Naturmaterialien beruhte.
Viele Gespräche zwischen Picasso und Brassai sind uns erhalten und
geben Zeugnis von dem reichen Gedankenaustausch der befreundeten
Künstler. Picassos Begeisterung für die ursprünglichen Gravuren, welche
Brassai auf den Wänden von Paris fand, war groß. Größer war wohl
dennoch der Einfluss von Picassos Kunst auf Brassai. Die Formen und
Strukturen, welche Brassais Auge gefangen nahmen, sind eng verknüpft
mit dem Formenkanon, den Picasso gerade in dieser Zeit entwickelte. So
sind Brassais Fotografien sowohl Widerhall als auch Innovation; beide
Aspekte gehen in seinem Werk eine Symbiose ein, welche einen unbe-
streitbaren und nachfühlbaren Einfluss hatte auf viele Fotografen der
nachfolgenden Generation.
Aaron Siskind
Der Chronologie folgend kommen wir Anfang der 50er Jahre zu einem
Mauerfotografen, der in Amerika wirkte und lebte. Aaron Siskind kommt
aus New York und blieb während seiner gesamten künstlerischen Schaf-
fensperiode den unterschiedlichen Facetten der Städte dieser Welt
verpflichtet. Bereits Anfang der 40er Jahre etablierte er einen rein
abstrakten fotografischen Stil (38, 39, s.a. Bildquellenangabe), für den er
noch heute anerkannt und berühmt ist. Den Schritt in die Abstraktion tat
er nicht unbeeinflusst von seinem künstlerischen Umfeld, das Mitte des
vergangenen Jahrhunderts in New York wirkte. Aaron Siskind war aktives
Mitglied der Abstrakten Expressionisten, welche im wesentlichen die
Vorrangstellung der amerikanischen Kunst in der Nachkriegszeit begrün-
deten.
Zu den ihm nahestehenden Künstlerkollegen gehörten berühmte
Persönlichkeiten wieWillem de Kooning, Franz Kline, Robert Motherwell,
Barnett Newman, Jackson Pollock und Mark Rothko. In diesem Kreis
nahm Siskind als Fotograf eine Außenseiterstellung ein. Seine Bilder
entstehen an den gemeinen Plätzen des Kommerz und der urbanen
17
35 -
Hommage an Paul Klee I,
F 094