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letzteren Aspekt zu betonen; die abgeschnittene Linie setzt sich vor
unserem inneren Auge fort und läuft ins Unendliche. Bei
F140 (12)
erscheint auf heller Mauerfläche ein gerader, waagerecht verlaufender,
Bleistift-Strich, der in regelmäßigen Abständen mit Kreuzen versehen
wurde, wobei die Kreuze genau an ihrem Schnittpunkt auf der Linie zu
„hängen“ scheinen. Hier drängt sich dem Betrachter keine bestimmte
Lesart auf. Die Striche des Zeichners mögen einem verbindlichen Code
gefolgt oder auch ein persönliches Chiffre sein, das nur durch den
Zeichner selbst oder eine bestimmte Gruppe entziffert werden mag.
Diese Rätselhaftigkeit ist es, welche uns die dargestellte Zeichenkette
besonders interessant macht.
Die Schrift an derWand
Vom Zeichen oder Symbol zum geschriebenen Wort ist es kein weiter
Schritt; ist doch die Schrift lediglich eine Folge von Zeichen, bestimmt für
einen Kreis von Kundigen. Im vergangenen Jahrhundert hat zwischen
den Kulturen ein sehr viel belebterer Austausch stattgefunden als jemals
zuvor. Wie begrenzt dieser Prozess jedoch in Wahrheit ist, lässt sich
erahnen, wenn man die Vielfalt betrachtet, welche auch heute noch in
der Welt der Schriftzeichen existiert. Mein Vater hat seine Mauern und
Wände in vielen Ländern der Erde aufgenommen. Bei den Mauerstruk-
turen und den abstrakt bemalten Wänden standen Kulturunterschiede
nicht im Vordergrund, da diese Art der Bilder zu den wenigen gehören,
welche von kosmopolitischem Wesen sind und kulturelle Grenzen
mühelos überschreiten. Die im Folgenden beschriebenen Fotografien
nehmen Bezug zu den unterschiedlichen Facetten des Schrift- und
Sprachgebrauchs und zeigen uns Nähe und Distanz, welche auf unserer
Erde existieren.
Das Wort auf der Wand hat verschiedene Bedeutungsebenen und Hinter-
gründe. Es kann offiziellen Charakter haben, als Verbot oder Warnung
oder auch als Name einer öffentlichen Einrichtung oder eines Unterneh-
mens erscheinen. Wo früher für diese Arten von Wörtern an der Wand
noch gemalte Schrift üblich war, finden wir sie heute meist auf Schildern,
die weniger vergänglich sind als Farbe. Ganz anders die persönlichen
Inschriften des Einzelnen, des Mitteilsamen, der seine individuellen
Herzensbotschaften auf der Mauer verewigt. Sie sind entweder an die
ganze Welt oder an einen geliebten oder gehassten Menschen gerichtet.
Beginnen wir unsere Betrachtung mit solchen Nachrichten, die an eine
breite Öffentlichkeit adressiert sind, so kommen wir zu den Bildern
F97
(23), F23 (27)
und
F67 (20)
.
Bei
F97 (23),
ist das Wort NON (Nein) auf einer Fläche von drei anein-
29 -
glücklich entkommen,
F 080
30 -
Merde,
F 050