Win Labudas Mauerbilder - page 5

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Symbol der Venus,
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geben den Menschen, die in ihr lebten, Namen und Geschichten. Auch
aus Frankreich sind Graffiti überliefert. Restif de la Bretonne zum
Beispiel war ein berühmter „Kritzler“ im Französischen „Griffon“
genannt, der die Mauern an den Ufern der Seine als sein persönliches
Tagebuch betrachtete und dort Daten, Erlebnisse und Gefühle verewigte.
Die unbestreitbare Bedeutung der Mauer als öffentliches Kommunikati-
onsforum und persönliche Tafel führte zu einer Vielfalt von Ausprä-
gungen der Graffitikunst. Sei es die gezeichnete Linie eines Kindes an der
Wand, das persönliche Symbol eines Menschen, ein komplexes Wandge-
mälde oder Gruppenarbeiten von Sprayern wie beispielsweise an Bahn-
höfen und Zügen; die Mannigfaltigkeit der Zeichen und Texte scheint
keine Grenzen zu kennen.
Jeder von uns hat schon einmal ein Graffiti gemalt, unbewusst und
spontan, bei einem Hüpfspiel auf der Straße oder das geritzte Herz in die
Schulbank. Viele Situationen lassen sich ins Gedächtnis rufen, in denen
wir unbewusst und spielerisch die nächstgelegene Fläche bemalten,
ritzten oder mit einer Zeichnung versahen. Das Graffiti entsteht einem
inneren Ruf folgend; ein Bild oder Wort, welches schon in uns lebt, dringt
zumeist aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Aber das Unbe-
wusste des Graffiti ist nur einer der möglichen Aspekte, die wir in dieser
Welt der Zeichen undWorte betrachten können.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde auch die Kraft eines Zeichens an der
Wand bezüglich seiner Wirksamkeit in der Öffentlichkeit entdeckt. Ein
Beginn der Überlieferung von Zeichen, welche einem bestimmten Perso-
nenkreis zugedacht waren, ist das Zeichen des Fisches der verfolgten
Christen im Römischen Reich. Der Fisch an der Wand war ein Zeichen
der unausgesprochenen Übereinkunft, der stillschweigenden Zusam-
mengehörigkeit von Verfolgten, die oftmals nur dadurch zu ihren Verbün-
deten fanden. Betrachtet man die Geschichte des Graffiti, dann sind es
immer wieder Gemeinschaften dieser Art, welche sich durch die Bema-
lung von Wänden und Mauern äußern, um Verbündete zu suchen, zu
protestieren, eine Haltung zu demonstrieren – und dabei anonym zu
bleiben.
Der Sinngehalt der überlieferten Graffiti, welche innerhalb eines politi-
schen oder religiösen Zusammenhangs entstanden, ist nur für die Zeit-
spanne des 20. Jahrhunderts nochvollziehbar. Wenn es auch Zeugnisse
für die jahrhundertlange Existenz von Graffiti gibt, so sind doch die
thematischen Zusammenhänge - beispielsweise innerhalb einer archäo-
logischen Fundstätte - heute kaum noch auszumachen.
Ein immanenter Bestandteil des Graffiti ist seine Vergänglichkeit. Per se
nicht für die Ewigkeit bestimmt, sind der Nachwelt aus der Geschichte
nur wenige Graffiti erhalten geblieben. In den Zügen etwa, die im 1. Welt-
krieg die Soldaten an die Front oder wieder zurück in die Heimat trans-
portierten, kann man zahlreiche Graffiti an den Waggons finden, die den
Feind karikieren. Im Deutschland des Nationalsozialismus wurde die
anfängliche systematische Diskriminierung und später auch die gesetz-
lich verordnete Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerungsteile von Graffiti
aus dem Volk und von der SS begleitet. Angefangen mit rassistischen
Parolen wurde der Davidsstern an einer Ladenwand zum Symbol für den
Boykottaufruf gegen ein von Juden betriebenes Ladengeschäft. Später
rief der Stern nicht mehr nur zum Boykott auf, sondern wurde zum
gemalten Todesurteil an der Wand. Aber genauso wie Graffiti im Dienste
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