Win Labudas Mauerbilder - page 18

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Gemeinschaft. Dies mag das Industrieviertel einer Metropole oder der
Markt eines Fischerdorfes sein. Siskind macht uns vertraut mit der
Umwandlung der Wirklichkeit, welche durch den bewussten Gebrauch
einer Kamera geschehen kann. Alles was uns umgibt und von uns als
Realität wahrgenommen wird, ist stets nur unser ganz persönlicher
Focus auf die Dinge. Doch die Fotografie macht uns bewusst, wie viele
Nuancen unsere Realitätsempfindung haben kann. Nicht durch Filter
oder Nachbearbeitung, sondern durch ein anderes Realitätsempfinden
werden wir mit den täuschenden Erscheinungsbildern und der Zwiespäl-
tigkeit der Dingwelt konfrontiert.
Die Welt, welche Siskind für uns ablichtet und damit in einen neuen
Zusammenhang stellt, besteht aus Textilien, Häuserecken, gestapelten
Kisten, dem Asphalt der Straße und insbesondere der Wand und ihren
unterschiedlichen Erscheinungsformen. Diese und unzählige andere
Objekte, die sein Interesse erwecken, werden von ihm in die Flächigkeit
der Fotografie gewandelt und damit einer doppelten Abstraktion unter-
zogen. Siskinds Fotografien machen uns vertraut mit diesem Prozess und
lassen uns die abstrakt-malerisch anmutenden Dimensionen unserer
alltäglichen Umwelt entdecken. Seine Bilder sprechen die Sprache seiner
Zeit und erscheinen uns oft als die fotografische Umsetzung der künstle-
rischen Ziele, welche sich die Abstrakten Expressionisten seinerzeit
gesetzt hatten. So können wir, in einen gänzlich neuen Zusammenhang
gestellt, Jackson Pollocks verlaufende Farbspuren wiederentdecken und
auch die schwarzen gestischen Pinselstriche, welche uns an die Bilder
eines Franz Kline erinnern.
Lee Friedlander
Lee Friedlander ist ein amerikanischer Künstlerkollege Siskinds, der sich
mit einem bedeutenden fotografischen Beitrag (40 bis 42, s.a. Bildquel-
lenangabe) ebenfalls dem Erscheinungsbild der Mauer gewidmet hat.
Obwohl auch sein Schwerpunkt in der urbanen Umgebung liegt, so führt
doch sein Blick auf diese Umgebung zu ganz anderen Ergebnissen. Bei
ihm steht bei der Betrachtung der Wand das Alphabet im Vordergrund,
was sich schon im Titel seines Fotografiebandes „Letters from the
people“ (Briefe von den Menschen) andeutet. Er widmet sich thematisch
aufgeteilt den Buchstaben, Zahlen und Sätzen, die er auf den Wänden
der amerikanischen Großstädte vorfindet. Diese stellt er nicht isoliert,
oder im engen Zusammenhang mit dem Erscheinungsbild der Wand dar,
sondern bindet sie ein in das Lebensgefühl des amerikanischen Stadtbe-
wohners. Oftmals sind auch Fragmente der städtischen Umgebung, wie
Schattenwürfe, Ausblicke auf die Architektur oder auch den Menschen in
seinen Fotografien auszumachen. Dabei fühlt er sich speziell den charak-
teristisch amerikanischen Merkmalen des Großstadtlebens verpflichtet.
Er ist in seinen Verweisen weniger kosmopolitisch-urban als vielmehr
Archivar der spontanen Entäußerungen des amerikanischen Großstadt-
menschen auf den Oberflächen seiner täglichen Umgebung. Schon die
Buchstaben zeugen zum Großteil von einer typisch amerikanischen
Schriftsetzung, und diese Tendenz setzt sich bei den Zahlen fort. Bei der
Abbildung von Schriftzügen und Sätzen schließlich lässt er keinen
Zweifel an ihrem kulturellen Ursprung, fokussiert er doch amerikanische
Werbesprüche, Ladenaufschriften oder Mauerbeschriftungen, die sich
auf bestimmte gesellschaftliche oder politische Phänomene beziehen.
Friedlander geht es nicht um Abstraktion, sondern ganz im Gegenteil um
eine Geschichte, um sein teils nüchternes teils romantisches amerikani-
sches Großstadtepos. Diese amerikanische Geschichte erzählt er durch
1...,8,9,10,11,12,13,14,15,16,17 19,20,21
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